Eine der grössten Bedenken bezüglich der Elektromobilität ist die 'Reichweitenangst'. Deswegen soll hier einmal erklärt werden, wie sich das Ganze eigentlich rechnet. Bevor man sich daran machen kann, auch nur Schätzungen zu Ladezeiten, Reichweiten und der dazugehörigen Infrastruktur zu machen, muss man sich zunächst etwas an die neuen Einheiten gewöhnen, Kilowatt (kW) bzw. Kilowattstunden (kWh). Das ist überschaubar, und den meisten Leuten werden zumindest die Leistungsdaten ihrer wesentlichen Verbraucher zu Hause bekannt sein. Ein Beispiel ist der Staubsauger, der hat z.B. 2000 W Leistung. Das sind 2 kW, wenn man ihn eine Stunde ununterbrochen laufen lässt, kommt man auf 2 kWh. Das ist es auch schon. Leute, die inzwischen geistig eher mit kW statt PS rechnen, sind hier übrigens im Vorteil. 😅
Elektrofahrzeuge haben zurzeit Akkus zwischen etwa 15 und 100 kWh, d.h. sie können diese Leistung theoretisch abgeben. Praktisch ist das aus verschiedenen Gründen etwas weniger (es gibt im Auto ja noch andere elektrische Verbraucher), aber das soll bei den Betrachtungen hier erst einmal nicht stören. Dann muss man noch wissen, dass Elektrofahrzeuge -je nach Grösse, Bauart und Leistungsfähigkeit- etwa 15-25 kW/100 km im Fahrbetrieb verbrauchen. Man kann das durch schnelles Fahren noch steigern (oder langsameres Fahren senken), aber im Mischbetrieb kommt das ungefähr hin. Damit bekommt man dann auch schon die theoretische Maximalreichweite bei einem vollen Akku. Beispiel: der Akku hat 45 kW, der Wagen verbraucht 15 kW auf 100 km - also reicht das für etwa 300 km, bis der Akku komplett leer ist (45/15=3). Ein Fahrzeug, dass 20 kW verbraucht, muss dafür einen Akku von 60 kW mitbringen (60/20=3).Diese Erkenntnisse sind aber wie gesagt theoretischer Natur, denn das vom Verbrenner stammende (nennen wir es mal so) "Voll-Leer-Denken" ist so gar nicht zweckmässig. Man wird im Regelfall weder seinen Akku auf 100% aufladen, noch ihn bis auf 0% leer fahren. Das hat mit mehreren Dingen zu tun:1) Der Akku mag es nicht, wenn man ihn völlig füllt oder völlig leert. Darum haben alle Elektrofahrzeuge eine Software an Bord, mit dem man die Befüllung begrenzen kann, z.B. auf 80%. Fährt man kurze Touren, stört einen das nicht. Vor längeren Touren startet man mit einmalig 100%, aber unterwegs wird man unterwegs kaum über 80% laden (dazu gleich mehr).
2) So lange man am Wechselstrom lädt (Schukosteckdose, Kraftstrom, Wallbox oder 'kleine' öffentliche Ladesäule mit maximal 22 kW mit Typ-2-Fahrzeugkabel), erfolgt die Ladung immer gleichmässig und immer bei Gelegenheit: zu Hause, bei der Arbeit, im Parkhaus oder beim Einkaufen. Da wird dann z.B. bei Ikea von 54% auf 70% geladen oder bei Kaufland von 35% auf 42% und dann wieder zu Hause auf 80%. An all diesen Stellen ist Ladezeit aber keine Wartezeit und daher irrelevant. Die Schnelligkeit der Ladung hängt in diesen Fällen nicht von der Säule ab, sondern von der Bordelektronik des Fahrzeugs. In der Regel sind momentan das 7-11 kWh:
3) Jedes Fahrzeug bzw. dessen Akku hat dagegen bei Schnellladungen am Gleichstrom eine individuelle Ladekurve. Die recht grossen Schnelllader findet man bisher fast ausschliesslich an Autobahnen, denn in der Stadt werden die wegen der Gründe unter 2) bisher kaum gebraucht. Man erkennt sie oft am eingebauten Ladekabel, das oft flüssigkeitsgekühlt ist. Tendenziell kann man sagen, dass ein Fahrzeug etwa zwischen 10% und 80% Akkustand am schnellsten laden kann. Über 80% wird oft die Ladeleistung soweit herabgesetzt, dass sich längeres Warten nicht lohnt. Besser ist es normalerweise, auf der Langstrecke einen zusätzlichen Ladestopp einzulegen und dafür viel schneller zu laden. Die Planung muss man nicht selber machen (s. App-Tipp), aber sie ist sinnvoll. Auch hier ist die Bordelektronik der begrenzende Faktor, moderne Autos schaffen 100+ kW über einen längeren Zeitraum, die Ladestationen kommen derzeit bis etwa 350 kW. In beiden Fällen gibt es aber eine rasante technische Entwicklung.
Aus den genannten Gründen sind Aussagen wie "oje, mein Auto (mit z.B. 46-kW-Akku) braucht an der ungesicherten Schukosteckdose mit 2,3 kw ja 20 Stunden zum Aufladen" total unsinnig. Nichts davon wird passieren: der Wagen wird nicht auf 0% leergefahren, nicht auf 100% aufgeladen und man wird bei Dringlichkeit sicher nicht an eine Haushaltssteckdose gehen, sondern an eine der ca. 28.000 öffentlichen Ladesäulen (Stand Oktober 2020) oder eine passende Wallbox.
Nehmen wir dennoch für diese Diskussion den -zwar völlig unrealistischen, aber theoretisch schlimmsten denkbaren- Fall an, ergibt sich die folgende Rechnung:
- Ich komme mit 1% (abenteuerlustig) spät abends zu Hause an und muss am nächsten Morgen (sagen wir nach 6 Stunden) sehr früh weiter. Ich habe dennoch keine Lust, an einer öffentlichen Säule zwischenzuladen (mit den 7-11 kW würde ich in dieser Zeit bis 100% oder nahe heran kommen) und zu Hause nur eine Schuko mit 2,3 kW. Dann kann ich immer noch 6 x 2,3kw = 13,8 kWh nachladen. Das sind sparsam gefahren 80-100 km. Am Ort komme ich praktisch überall hin, für die Fernstrecke sicher bis zum nächsten Schnelllader an der Autobahn. Dort habe ich dann vielleicht 25-35 Minuten Wartezeit (je nach Strecke und Ladekapazität und -geschwindigkeit), aber die ist in diesem Fall der Preis der Bequemlichkeit.
Und das wäre dann schon der (selbst verursachte und durch etwas Vorausdenken verhinderbare) so genannte GAU. 💣Bei Licht betrachtet ein überschaubares Problem mit überschaubaren Folgen.
Eine gerne gestellte Frage ist auch die nach der Fahrzeugleistung. Warum eigentlich haben selbst Modelle der unteren Mittelklasse (Hyundai Kona-e, VW ID.3) bis 150 kW (204 PS 😐) Leistung? Ist das nicht zu viel? Die Antwort ergibt sich aus der Technologie, denn das Verhalten eines Elektromotors unter Last ist komplett anders als das von Verbrennern. Dazu kommt die Rekuperation, d.h. die Energierückgewinnung beim Verzögern. Die wesentlichen Unterschiede lauten:
1) Ein Elektromotor hat einen viel höheren Wirkungsgrad als ein Verbrennungsmotor (etwa >85% vs. 30%, Link). Das heisst, der Verlust (etwa als Wärme) ist bei einem Elektromotor viel niedriger. Um eine bestimmte Bewegungsenergie zu erzeugen, ist es darum fast egal, wie viel kW der (Elektro)Motor hat. 50 kW oder 500 kW - das ist theoretisch mehr eine Frage des Platzbedarfes und der gewünschten Höchstgeschwindigkeit. Natürlich verbraucht ein grösseres Auto insgesamt mehr - das liegt aber vor allem am Windwiderstand, nicht am grösseren Elektromotor.
2) Es gibt dafür einen Zusammenhang zwischen Motorleistung und Akkugrösse. Bei der Rekuperation fallen in kurzer Zeit grosse Energiemengen an. Bei grossen (=schwereren) Fahrzeugen und/oder grossen (=schwereren) Akkus sind diese beträchtlich. Um sie voll aufzufangen, sind entsprechend grosse Motoren erforderlich. Zu einem grossen Akku gehört also zwingend ein leistungsstarker Motor. Bei den oben genannten Modellen gibt es darum derzeit die Kombination aus kleinerer Akku/schwächerer Motor und grösserer Akku/stärkerer Motor.
3) Das Auffangen der Bremsenergie hat zur Konsequenz, dass dort am meisten gespart wird, wo der Verbrenner den höchsten Verbrauch hat: in der Stadt. Das Abbremsen bringt etwa 60% der zuvor investierten Energie zurück: der Verbrauch ist darum beim Stromer in der Stadt niedriger. Und natürlich verlängert ein Stau auf der der Autobahn dank Schleichfahrt und Stop and Go die Reichweite ebenfalls. 😀 Für den von Herstellern in Prospekten genannten WLTP-Normverbrauch bedeutet dies: ein Verbrenner wird in der Stadt immer mehr verbrauchen als angegeben, ein Stromer dagegen weniger (!).
Zusammenfassend muss sich niemand vor "zu geringer Reichweite" fürchten, ebenso wenig übrigens wie vor zu wenig Lademöglichkeiten. Wer ungefähr in den Durchschnitt fällt (je nach Quelle zwischen 12.000 und 15.000 km pro Jahr, etwa 40 km/Tag) muss sich eigentlich keinerlei Gedanken mehr machen, so lange kein Langstreckentrip geplant ist. Dann ist etwas Planung sinnvoll.
Empfehlenswert ist hier die App 'A better Route Planner' (ABRP, Link unten), wer will kann ja probeweise die letzte Urlaubs- oder Wochendfahrt mit dem angedachten Wunschfahrzeug (!) damit nachkalkulieren.
Apps und Webseiten (subjektive Auswahl):
Weiter mit Elektromobilität Teil V
Zum E-Mobilitätsblog der Stadtimker
ABRP - A Better Route Planner, Routenplaner für Langstrecken mit dem Elektroauto
Nextcharge - Ladestellenverzeichnis mit Benachrichtigung neuer Ladepunkte am Ort
Plugsurfing - Spontanladen mit dem Smartphone (inkl. Ladestellen) bargeldlos
Going Electric: Webseite mit Nachrichten und Infos zum Thema Elektromobilität. Beachtenswert auch das dortige Europaverzeichnis der Stromtankstellen und das Fahrzeugverzeichnis.
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